Mein Erfahrungsbericht über eine Woche Sondennahrung (Teil 1)
Dieser Blog ist der Erfahrungsberichts über eine Woche, in der ich mich ausschließlich über eine Ernährungssonde ernährte, um dadurch besser nachvollziehen zu können, was sondenernährte Kinder und ihre Familien durchmachen müssen.
Warum ich mich eine Woche lang über die Sonde ernährte
Im August 2014 verzichtete ich für 1 Woche komplett auf orale Ernährung, also auf die Einnahme von Essen und Getränken über den Mund. Ich hatte mich zu diesem Selbstversuch entschlossen, weil ich am eigenen Leib erfahren wollte, was die von uns behandelten Kinder durchmachen. Mir war klar, dass ich mich auf ein extremes Experiment einließ, denn ich würde eine Woche lang meine gesamte Nahrung über einen Kunststoffschlauch zur mir nehmen, der über Nase, Rachen und Speiseröhre in meinen Magen führte. Schon als kleiner Junge war ich etwas extrem. Wie heißt es so schön: „Den Mutigen hilft das Glück“. Als ich sechs Jahre alt war, hatte ich einen Streit mit meinem Kindermädchen. Ich packte meine Sachen und rief meine Mutter von einer Telefonzelle aus an. Ich stellte Sie vor die Wahl: „Entweder sie oder ich.“ Zum Glück entschied sich meine Mutter für mich. Bisher hat mir mein extremes Handeln oft Erfolg beschert. Mit 21 Jahren gründete ich gemeinsam mit meinen Eltern NoTube. Damals studierte ich im 3. Semester Wirtschaft und meine Eltern standen nur wenige Jahre vor der Rente. Die Leute hielten uns für verrückt, doch wir verfolgten ein einfaches Ziel, und zwar alle Kinder weltweit von unnötigen Ernährungssonden zu befreien.
Doch nach dreieinhalb Jahren und 300 sondenentwöhnten Kindern hatte ich immer noch das Gefühl, dass ich als Chef unserer Firma nicht wirklich wusste, was diese Kinder ertragen müssen.
Wie kann man Kinder behandeln, wenn man selbst nie erfahren hat, welchen Belastungen sie eigentlich ausgesetzt sind?
Mitglieder unseres Teams veröffentlichten die ersten Studien weltweit über die unerwünschten Begleiterscheinungen der Sondenernährung und stellten dabei fest, dass über 50% der sondenernährten Kinder an massivem Reflux, Husten oder Würgen litten und über 30% häufig erbrachen (bis zu 30 Mal täglich). Heute wissen wir, dass über 30% der sondenernährten Kinder als Folge der Sondenernährung tatsächlich unter Mangelernährung leiden).
Meine Eltern sind Ärzte und in unserer Familie gibt es viele Wissenschafter (zu denen ich mich nicht zähle), also beschloss ich, dass es an der Zeit für ein Experiment war. Ich bat meine Eltern, eine nasogastrische Sonde und die Spezialnahrung, die bei der Sondenernährung verabreicht wird, für mich zu besorgen.
Meine Startausrüstung
Vorne im Bild sieht man die nasogastrische Sonde, zwei Spritzen (eine mit Softspitze und eine mit Nadel) sowie Klebeband für das Befestigen der Sonde an der Wange und dahinter eine Tagesration Sondennahrung (zwei Liter hochkalorische Sondennahrung mit 1 kcal/ml). Ich wählte Kindersondennahrung, um die Sondenernährung unserer kleinen Patienten so realitätsgetreu wie möglich zu erleben. Ich musste all diese Sachen in einem Rucksack mit mir tragen; also fast 3kg inklusive des ganzen Klebebands, der Spritzen, etc… So viel dazu, dass ich ein MacBook Air kaufte, um das Gewicht in meinem Rucksack zu reduzieren!
Tag 1 – Niesen und leichte Nebenwirkungen
Hier sieht man mich unmittelbar vor und nach dem ersten Mal, dass meine unerschrockene Mutter Marguerite Dunitz-Scheer bei mir die NG-Sonde legte (sie ist Kinderärztin, falls Sie sich jetzt wundern):
Das bin ich, unmittelbar bevor und nachdem die Sonde zum ersten Mal gelegt wurde
An meinen verheulten/geschwollenen Augen und meinen geröteten Wangen ist zu erkennen, dass meinem Körper das Legen der Sonde nicht besonders gefiel. Ich musste sogar ein bisschen würgen, als die Sonde zum ersten Mal eingeführt wurde und erst als meine Mutter mich anwies, zu schlucken, bekam ich die Sonde runter in die Speiseröhre und wie geplant bis in den Magen. Beim Legen der Sonde hat der Bereich direkt hinter der Nase am meisten weh getan; ich wusste vor diesem Versuch nicht einmal, dass dieser Bereich überhaupt existierte bzw. dass dort Nervenendungen waren! Das Gewebe dort ist hyperempfindlich. Ich bekam auch ein wenig Nasenbluten, vermutlich, weil bei mir so etwas bisher noch nie gemacht wurde. Außerdem war meine Nase danach für ungefähr eine halbe Stunde verstopft, bis sie sich an den Fremdkörper gewöhnt hatte. Interessant war, dass ich überhaupt nicht fühlen konnte, wie die Sonde die Speiseröhre hinuntergeführt wurde. Nachdem die Sonde gelegt war, überprüften wir, ob sie auch richtig platziert war. Dazu verwendeten wir eine Spritze, mit der wir über die Sonde Magensäure aus dem Magen zogen. Als wir etwas gelbliche Flüssigkeit hinaufbekamen, wussten wir, dass die Sonde richtig lag.
Niesen und Sonden!
In der Nacht hatte ich unter meiner üblichen Hausstaubmilbenallergie zu leiden und musste innerhalb einer halben Stunde 25 Mal niesen. Nach dem 15. Niesanfall und weil ich so stark niesen musste, rutschte die Sonde ein Stückweit nach oben in meinen Mund und den oberen Bereich meiner Kehle. Diese Situation erschien mir gefährlich. Es fühlte sich in etwa so an, als würde mich etwas beim Atmen behindern und mir die Luft abschnüren. Ich hatte das Gefühl, nicht mehr atmen zu können, geriet in Panik und wie aus einem Reflex heraus entfernte ich die Sonde. Nach einer oder zwei Minuten hatte ich mich wieder beruhigt und mir wurde bewusst, dass ich die Sonde ganz herausgezogen hatte. Wir bewahrten sie in einer Schüssel mit Wasser auf, um ein mögliches Verstopfen der Sonde zu vermeiden (das passiert, wenn in der Sonde verbliebene Substanzen aushärten).
Tag 2 – Ich gewöhne mich geistig und körperlich an die neuen Umstände
Ich war ohne Abendessen zu Bett gegangen und hatte die Sonde in der Nacht herausgezogen. Am nächsten Tag musste ich mir die Sonde also erneut legen lassen. Zu diesem Zeitpunkt war ich schon wirklich sehr hungrig, mein Magen verlangte nach etwas Essbarem und knurrte ganz laut. Ich bezweifle, dass ich jemals eine so lange Zeit ohne Essen auskommen musste, außer als ich aus religiösen Gründen fastete. Dieses Mal wusste ich schon, was auf mich zukam, aber das machte die ganze Angelegenheit nicht unbedingt angenehmer. Meine Mutter und ich saßen im geparkten Auto, als wir die Sonde erneut legten und wir hatten natürlich ein paar Zuschauer, die sich fragten, was in aller Welt wir da gerade taten. Für meine Mutter Marguerite war es auch erst das zweite Mal, dass sie bei einem ihrer sechs Kinder eine Sonde legte (das erste Mal hatte sie es am Tag zuvor bei mir gemacht) und sie meinte, es wäre nicht einfach für sie gewesen, mich weinen zu sehen, als sie die Sonde bei mir legte. Ich wollte das natürlich nicht, aber die Tränen ließen sich einfach nicht unterdrücken, weil die Sekretproduktion automatisch einsetzt, sobald die Sonde eingeführt wird. Ich musste auch wieder husten und niesen, als die Sonde eingeführt wurde und es tat ein bisschen weh. Wegen dieser Reflexe wurde die Sonde manchmal unbeabsichtigt wieder etwas nach oben geschoben. Die ganze Prozedur dauerte nur fünf Minuten und dann begannen wir mit der Nahrungsgabe. Auf dem Bild sieht man, dass meine Augen wieder ganz gerötet waren und dass ich im ganzen Gesicht Klebeband habe.
Marguerite sondiert mich (nach so vielen Jahren „füttert“ sie mich wieder!)
Meine erste Mahlzeit über die Sonde
Es war Mittagszeit und da ich am Vorabend kein Abendessen oder etwas anderes gegessen hatte, gab mir Marguerite 400ml Nutrini (8 volle Spritzen), während wir noch im Auto waren, da ich danach arbeiten gehen musste. Ich parkte das Auto und ging ins Büro. Normalerweise bin ich eine eher hyperaktive Person und es muss das erste Mal seit Jahren gewesen sein, dass ich mich vor unserem Team richtig ruhig verhielt, denn ich war einfach nur müde. Das Essen ist gelinde gesagt sättigend. Da es Mittagszeit war und ich 700-900 kcal brauchte, sondierte ich mich im Büro weiter.
Das Sondieren läuft nicht so sauber ab wie man denkt und es kann lange dauern
Man würde meinen, dass die Ernährung über die Sonde viel sauberer abläuft als normales Essen. Da ist die Sonde und etwas Flüssigkeit, man spritzt die Flüssigkeit einfach in die Sonde und das war’s. Man könnte auch denken, dass es schneller ginge, da
man keine Zeit zum Kauen braucht. Beide Annahmen stellten sich als falsch heraus.
Meiner Erfahrung nach ist genau das Gegenteil der Fall. Am Anfang fragte ich meine Mutter und unsere ehemalige Kollegin Birgit (sie hatte nach einer Darm-OP eine Zeit lang eine Ernährungssonde), was ich machen musste und wie die Ernährung funktioniert, ich recherchierte im Internet, ob ich mich 3-mal täglich sondieren sollte oder die kontinuierliche Ernährungsweise (ohne Ernährungspausen) wählen sollte. Aus Angst vor Erbrechen, dass wir bei vielen sondenernährten Kindern beobachtet hatten, nahm ich etwas weniger
Sondennahrung zu mir, als für meine Körpergröße/Gewicht/Alter vorgesehen.
Als ich mich das erste Mal selbst sondieren musste (Im Auto hatte das ja Marguerite gemacht), nahm ich einen der Beutel, den Sie auf dem Bild oben sehen, führte die Spritze ein und zog daran. Ich fand das alles ziemlich spannend!Ich nahm den Verschluss der Ernährungssonde ab, hielt die Sonde hoch (um die Bildung von Luftblasen in der Spritze zu vermeiden, die dazu führen, dass Luft in den Magen gelangt und man aufstoßen muss) und begann mit der Applikation der ersten 50 ml. Die Sondennahrung war ein bisschen kalt, das habe ich hinten in der Kehle gespürt. Karoline half mir und es dauerte etwa eine Stunde, um meinem Körper die 500 ml (10 Spritzen) plus ungefähr 5 Spritzen mit Wasser (250 ml) zuzuführen. Da die Spritze oft tropfte und ich nicht wusste, wie ich die Stelle, an der ich die Spritze an die Sonde angesetzt hatte abdichten sollte, lief die ganze Angelegenheit nicht sehr sauber ab. Sabine hatte zum Glück ein paar Taschentücher. Wir mussten auch einige Male unterbrechen, weil ich mich schon satt fühlte, wir arbeiteten zwischendurch ein bisschen an unseren Laptops und setzten die Sondierung fort, als ich das Gefühl hatte, dass ich wieder mehr aufnehmen konnte.
Am Abend filmte mich mein Bruder Noah bei meinem ersten Abendessen – es machte Spaß, ihm dabei zuzusehen, wie er mir zusah. Insgesamt hatte ich 600 ml von der hochkalorischen Sondennahrung und 250ml Wasser, was 17 Spritzen ausmacht und deutlich länger dauert, als die orale Aufnahme derselben Kalorienanzahl.
Die 4 interessantesten Aspekte der ersten Phase
In diesen ersten zwei Tagen machte ich einige interessante Beobachtungen in Bezug auf die Ernährungssonde:
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Es war ein seltsames Gefühl, den ganzen Tag nicht gegessen oder getrunken zu haben, aber ich nahm an, dass ich mich daran gewöhnen würde. Ich kann nicht genau beschreiben, wie es sich anfühlt, wenn die Flüssigkeit in der Sonde den Hals hinunterrinnt, wenn also jemand wirklich daran interessiert ist, muss er/sie es wohl selbst ausprobieren. Je nach Temperatur ist es entweder ein kaltes Frösteln oder ein warmes Gefühl, aber man muss aufpassen, weil man gar nicht bemerkt, dass man den Magen verbrennt, wenn man zum Beispiel heißes Wasser in die Sonde füllt. Es gibt keine Nerven im
Magen, über die man das Brennen empfinden könnte, also muss man vorsichtig sein, wenn man Tee über die Sonde trinken möchte (ich habe es nicht gemacht). -
Gleichzeitig fühlte ich mich nach der Sondierung und auch den ganzen Tag über sehr müde. Um mich weniger müde zu fühlen, entschied ich, mich am nächsten Tag langsamer zu sondieren. Da ich zwischen 1.500 und 2.000 ml enteral zu mir nehmen musste, um mein Gewicht zu halten und ich 16 Stunden wach bin, muss ich mir 100 ml pro Stunde verabreichen. Weil jede Sondierung Zeit in Anspruch nimmt (die Ausrüstung vorbereiten etc.), denke ich, dass ich es einmal pro Stunde machen werde (d. h. 2 Spritzen pro Stunde).
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Meine Nase triefte fast den ganzen Tag ununterbrochen, es hörte am Abend aber auf und ich nahm die Sonde im hinteren
Teil meiner Kehle immer weniger wahr. Davor hatte es sich angefühlt, als hätte ich mich an Gemüse verschluckt, dass jetzt festhing, aber ich konnte nichts trinken und es ging auch nicht weg. -
Es war auch sehr interessant, die Reaktion anderer Leute auf die Sonde zu beobachten. Meine Familie hat sich schon vor langer Zeit damit abgefunden, dass ich verrückt sein musste und da meine Eltern Kinderärzte sind, hatten sie in ihrem Leben wahrscheinlich schon tausende Ernährungssonden gelegt und nahmen es daher relativ gelassen hin. Im Gegensatz dazu wollte mich eine gute Freundin der Familie gar nicht sehen, weil sie nicht dabei zusehen konnte, wie ich mich sondierte, sie fand es abstoßend. Sie wollte erst mit mir sprechen, sobald ich fertig war. Meine sechsjährigen Nichten waren am neugierigsten und ich erklärte ihnen, wie eine Sonde funktioniert, im Vergleich dazu, wie sie täglich essen.
Es war ein sehr ereignisreicher Tag, da ich das erste Mal in meinem Leben einen ganzen Tag lang nur über die Sonde trank und
aß. Vor dem Schlafengehen führte meine Mutter die Sonde über beide Ohren und klebte sie fest, damit ich sie beim Schlafen nicht herausziehen würde.
Das war’s für diese Woche, nächste Woche werde ich über meine Erlebnisse beim Sondieren in der Öffentlichkeit berichten, wie es ist, mit einer Ernährungssonde zu einer Verabredung zu gehen und ob man sich die Zähne putzen muss, wenn nichts über den Mund zu sich nimmt. Was glauben Sie?
Ich freue mich darauf, jede auftretende Frage zu beantworten!